Mittwoch, Oktober 04, 2006

Noelle Chatelet – Mit dem Kopf zuerst


Denise ist ein Mädchen – aber nur dem Namen nach. Sie fühlt sich nicht wie eins, im Gegenteil: Denise möchte ein Junge sein. Am Ende der Kindheit stellt sich heraus: Sie ist auch einer - jedenfalls halb. Denn im Körper von Denise existieren beide Geschlechter, Junge und Mädchen. Sie bekommt Brüste, aber auch einen kleinen Penis. Nach langen schmerzhaften Kämpfen mit dem Anderssein und der eigenen Identität fällt Denise eine Entscheidung: Sie will Paul sein, nur noch Paul.
Die Autorin Noelle Chatelet beschreibt in ihrem Roman „Mit dem Kopf zuerst“ die Wandlung von Denise zu Paul einfühlsam und ohne Voyeurismus oder moralischen Zeigefinger? Die Geschichte bewegt, auch deshalb, weil sie aus der Ich-Perspektive geschrieben ist. Chatelet schafft es mit ausgefeilten Bildern und einer sehr musikalischen Sprache, einen Einblick in Denise/Pauls Seele zu vermitteln. Das Leiden am eigenen Anderssein, die Erniedrigungen durch unverständige Mitmenschen, der Wunsch nach einem anderen Körper, die Liebe zu einem Mädchen: All’ das erlebt die Leserin unmittelbar mit Paul/Denise. Aber gerade durch die intensive, poetische Erzählweise wird vieles verwischt, was interessant gewesen wäre. Denise/Pauls Eltern reagieren extrem verständnisvoll und unterstützen ihr Kind in allem, was es tut. Ist das wirklich realistisch? Und Denise/Pauls erste Liebe wendet sich irgendwann ab – aber warum? Sie wusste von Denise/Pauls Zweigeschlechtlichkeit, wieso sie aber eines Tages nach jahrelanger Zuneigung urplötzlich aus Denise/Pauls Leben verschwindet, bleibt offen. Was Chatelet in ihrem Buch überhaupt nicht hinterfragt, sind die Geschlechterrollen, die Kindern, auch Denise, zugeschrieben werden. Der Vater wünscht sich einen Sohn, das angebliche Mädchen hasst Röcke, erst als Junge kann sie ein Mädchen lieben. Das dies nicht weiter thematisiert wird, ist ärgerlich. Dennoch hat Chatelet ein wichtiges Buch über ein Tabuthema geschrieben. Das Ringen von Denise/Paul mit dem eigenen Körper und der eigenen Identität ist bewegend, und wer das Buch einmal angefangen hat, kann es sicher nicht wieder weglegen.

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