Mittwoch, Oktober 04, 2006

Wladimir Kaminer – "Karaoke"


Als Koch internationaler Gerichte genießt
Wladimir Kaminer in der deutschen Literaturszene einen feinen Ruf. Das Rezept des Berliner Autors: scharfe Beobachtung garniert mit dem Blick fürs Wesentliche, gewürzt mit einer Prise Szene-Zeitgeist. Daraus formt der deutsch-russische Punkrock-DJ mundgerechte Häppchen in Form von witzigen Anekdoten und hintergründigen Geschichten. Bestseller wie Russendisko sind das satte Ergebnis.
Nun dreht sich im Buch Karaoke fast alles um Musik. Zunächst greift Wladimir Kaminer die bestens bekannte Russendisko wieder auf. So lernt der Leser den Türsteher kennen, der nur BBPs abweist, also „Besonders Betrunkene Personen“. Ganz wie in Kaminers Leben führen die weiteren Geschichten von der Hauptstadt der Sowjetunion ins frisch vereinigte Deutschland nach Berlin. Wenn dort in brechend vollen Kneipen Besoffene laute Musik hören, fühlen sich Zartbesaitete weniger wohl. Denn auch wenn die wilden Jahre des Autors längst passé sind -- gemäßigter Pop hat bis heute in der Russendisko nichts verloren.

Kaminer läuft zu Hochform auf, wenn deutsch-russische Gemeinsamkeiten und Befremdliches aufeinander stoßen. So lieben Deutsche und Russen Volksmusik gleichermaßen. Die hierzulande berühmten Don-Kosaken-Chöre kennt dort trotzdem kein Mensch. Zudem erfahren wir, wie Amanda Lear einmal die alte Sowjetunion mächtig aufmischt -- und wie sich die Band Rammstein für die Völkerverständigung einsetzt. Schließlich verraten Mädchen hinter Gittern, was Singen mit Freiheit zu tun hat.
Kaminer ist ein bunter Botschafter deutsch-russischer Freundschaft -- auch wenn der Bestseller-Autor ein wenig in den frühen Jahren nach dem Mauerfall zu verharren droht. Unter dem Strich beweist der Berliner erneut, dass selbst in Zeiten des postmodernen Potpourri die schwere (sowjet-)russische Seele und gesamtdeutscher Schwermut gut zueinander passen. Und aus diesem Mischgemüse werden wieder witzige Geschichten kreiert. Die bewährten Zutaten sorgen für eine herzhafte Lektüre, die der Leser schnell verschlingt. --Herwig Slezak KurzbeschreibungWie tanzt man als Pinguin »Die Eroberung des Nordpols« im Volksballett-Kollektiv? Warum sehen die Mitglieder der Popband »Der kuschelige Mai« alle aus wie junge Gorbatschows? Und wieso funktioniert der Kassettenrekorder Romantiker 306, ein Wunderwerk sowjetischer Technologie gebaut aus Abfällen der Raketenindustrie, nur auf heimischem Territorium? Von diesen Mysterien und von anderen Begegnungen mit der Welt der Musik erzählt Wladimir Kaminer in seinem neuesten Buch. Alles begann damit, dass ihm seine Klassenlehrerin Klavierunterricht verordnete, damit er in seiner Freizeit nicht auf dumme Gedanken kam. Statt des Klaviers bekam der junge Wladimir Kaminer eine Sperrholzgitarre, und seither versucht er, das Geheimnis der Musik zu ergründen. Dabei geht er nicht zuletzt auch der Völker verbindenden Kraft der Musik nach, von sozialistischen Verbrüderungsliedern bis hin zu seiner berühmten Russendisko...

Hier eine Leseprobe:
Eine Revolutionslegende besagt, dass Lenin die Literatur und die bildende Kunst nicht leiden konnte, dafür aber ein großer Musikliebhaber war. Kurz bevor er starb, hatte Lenin geheime Anweisungen für die Genossen hinterlassen, die die sowjetische Kulturpolitik in der nächsten Zeit bestimmen sollten: »Angesichts des völligen Analphabetismus der Bevölkerung bleiben unsere wichtigsten Künste die Musik und der Zirkus«, stand dort schwarz auf weiß. Die Literaten und Maler erschossen sich oder gingen ins Exil. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, Volksorchester und Musikbrigaden zu gründen.
In dieser Zeit entstanden epochale Musikwerke, die eine Mischung aus Musik und Zirkus darstellten. Eine »Rote Oper« mit Pferden, Vokalisten, Akrobaten und mehreren hundert Schauspielern fuhr von Moskau nach Turkistan und veranstaltete überall revolutionäre Open-Air-Konzerte. In Baku schuf der rote Komponist Avraamov eine Symphonie mit der ganzen Kaspischen Flotte und einer Blockflöte. An der Aufführung nahmen zwei Artillerie-Regimenter teil, eine Maschinengewehr-Brigade, mehrere Wasserflugzeuge und alle Hafenbetriebe der Stadt. Die Partitur dieses beeindruckenden Werkes las sich wie ein Wagner-Fiebertraum: Nach der fünften Salve des ersten Artillerie-Regiments setzten die Sirenen des dritten Hafenwerkes ein, nach der zehnten Salve begann das Stakkato der Maschinengewehre. Der Komponist selbst stand am Ufer und spielte dazu ein Solo auf seiner Blockflöte. Aus heutiger Sicht wirkt eine solche Inszenierung übertrieben, doch der Musikzirkus ist nach wie vor die volksnaheste Kunst, Beispiel Musikantenstadl.
Das Theater ist elitär und kopflastig: Je revolutionärer die Theatermacher, desto spießiger ihre Kunst. Die Bücher sind meistens dick, nicht illustriert und preisgebunden, das Fernsehen macht auf Dauer dumm und schläfrig. Nur die Musik und der Zirkus halten die Bürger wach.
Die erste Musik meines Lebens kam aus einem Radioempfänger in der Küche, der so hoch an der Wand hing, dass ich ihn nicht einmal auf einem Hocker stehend ausschalten konnte. Dieses Radio ging mir furchtbar auf die Nerven. Als Kind musste ich früh aufstehen, damit meine Eltern mich im Kindergarten abgeben und zur Arbeit gehen konnten. Draußen war es noch dunkel, wenn das Radio um sechs Uhr von alleine zu spielen anfing, zuerst kam die sowjetische Hymne, dann folgten aufdringliche Melodien zur Einstimmung der Bevölkerung auf den Arbeitstag, und um sieben kam die humoristische Sendung Bleib gesund!, deren Moderator von unserem ganzen Kindergarten-Kollektiv aus vollstem Herzen gehasst wurde. Doch egal, wie sehr wir diesen Musikzirkus verabscheuten, er hielt uns wach.
Später war es dann die Rockmusik auf Underground-Konzerten, die mich aus dem Dornröschenschlaf eines sowjetischen Schülers riss. Und noch später spielte, egal was ich machte und wohin ich ging, immer irgendeine Musik im Hintergrund. Es war also nur eine Frage der Zeit, wann ich ein DJ wurde. Denn wer bleibt immer wach, wenn die anderen schlafen? Wer tanzt, wenn die anderen stehen und liegen, wenn sie nicht mehr können, wenn sie sich besaufen und umfallen, wenn sie nach Hause gehen? Der DJ ist Herr über den Musikzirkus der Gegenwart. Diese Leute sind Helden der Arbeit, manche können drei Tage hintereinander ohne Pause auflegen. Was, spielt dabei keine Rolle, Hauptsache, es kracht.
Es gibt Volltreffer-DJs – sie setzen auf Songs, die alle kennen und aus dem Stand nachpfeifen können, die gut zum Tanzen geeignet sind, aber allen, einschließlich dem DJ selbst, total auf den Wecker gehen. Die anderen, die so genannten Loser-DJs, stehen auf musikalische Werke, die ein Stückchen daneben liegen, von einem Volltreffer aus gesehen. Dabei machen sie aber mit aller Kraft deutlich, dass dieses Schräge gerade geplant ist, weil Mainstream unsäglich ist und sie schon immer scharf darauf waren, etwas daneben zu liegen. Dann gibt es noch Revoluzzer-DJs, die echte Revoluzzer-Songs allen anderen vorziehen. Diese Songs sind verdammt gut, sehr anstrengend zum Anhören und überhaupt nicht tanzbar. Es kümmert aber die Revoluzzer-DJs nicht, wie sie beim Publikum ankommen und ob ihre Musik tanzbar oder nicht tanzbar ist. Es geht ihnen um nichts weniger als um die Revolution. Bei unserer Russendisko mischen wir alles durcheinander, Hauptsache, es heizt an: ein Volltreffer, zwei Loser, ein revolutionäres Lied und noch einmal das Ganze von vorn. Man hat nie mehr als drei Minuten Zeit, um darüber nachzudenken, was als Nächstes kommt – und alles, was man zu Hause vorbereitet hat, taugt nichts.
Dieses Handbuch ist an den vielen Party-Abenden entstanden, in den Nächten, die ich hinter dem DJ-Pult verbracht habe. Manche Seiten entstanden im Keller des Kaffee Burger, zwischen Bierkisten und Weinkartons, wenn ich mir während der Disko eine Pause gönnte. Deswegen hat dieser Text keinen Anfang und kein richtiges Ende, man weiß nie, was als Nächstes kommt. Dafür wird in diesem Buch viel gesungen, getanzt und rumgemeckert, weil DJs ja eigentlich unglaubliche Nörgler sind. Wenn sie alle – die Volltreffer, die Loser, die Revoluzzer – irgendwann vor ihrem Musikgott stehen, jeder vor seinem eigenen natürlich, wird er sie sicher nicht fragen, welche Musikrichtung sie bevorzugten und welche Bands ihrer Meinung nach die besten seien. Nein, das wird er nicht. »Wie war die Stimmung?«, wird der Musikgott fragen. »Habt ihr da unten richtig auf den Putz gehauen? Habt ihr alles weitergegeben, was euch gegeben wurde, und hat es euch Spaß gemacht?«
»Ja! Ja!«, werden die Volltreffer, die Loser und die Revoluzzer rufen.
»Dann ist es gut«, wird der Musikgott sagen. »Packt schnell eure besten Platten zusammen, und welcome to Level II.«
Er wird sie alle lieben. Denn Gott ist auch ein DJ.

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